Wir stehen in der Ausstellung das Mal von Christoph Liedtke. Neben seinen plastischen und malerischen Arbeiten konfrontiert uns Christoph Liedtke diesmal mit einem Titel, über den es sich nachzudenken lohnt.
Am Anfang hatte ich meine Schwierigkeiten mit dem Titel. Ich fand ihn zu groß und ich habe den Begriff „das Mal“ zunächst auch erstmal nicht mit Christophs Arbeiten in Verbindung bringen können. Nach ein paar längeren Gesprächen mit dem Künstler und ein paar Zeilen, die er mir per Email schickte, hatte sich meine Skepsis zwar nicht aufgelöst, aber etwas von der spürbaren Faszination, die Christoph diesem Begriff entgegenbringt, hat auch mich erfasst.
Die erste Erklärung, die Christoph mir zusandte, war ein Auszug aus einem etymologischen Wörterbuch, laut dem folgende Begriffe mit dem Wort „Mal“ in einem verwandtschaftlichen Verhältnis stehen: Merkmal, Wundmal, Muttermal, Malen oder auch Gemälde. Schraube ich mich eine etymologische Ebene tiefer lande ich laut Textauszug bei althochdeutschen, gotischen oder altenglischen Wörtern wie: Mael, Mel oder Mol, welche so viel bedeuten sollen wie Zeichen, Fleck, Runzel aber auch Schande, Sünde und Sumpfboden. Die Geschichte des Begriffs führt mich aber noch weiter zurück. Vermutet wird eine indogermanische Wurzel nämlich: Mai was so viel heißt wie beflecken.
Ich bekomme einen Eindruck von der Tiefe des Begriffes, obwohl mir so ein Aufhebeln von Wörtern keine Freude bereitet. Ich finde es fast schon unanständig, Wörter die wir benutzen, so aufzuspreizen, als ob ich mich völlig ungefährlich ihnen gegenüber verhalten kann. Christoph freilich arbeitet mit diesem Begriff, er zerpflückt ihn nicht. Aber wenn ich mich ihm sprachlich nähere, wie ich es im Moment aufgrund sein Email tue, dann habe ich das Gefühl, mich im Gedankenexperiment von Schrödingers Katze zu befinden. Wenn ich unter die Oberfläche bzw. in die Kiste schaue, geht der Zauber verloren und ich verstehe nichts mehr.
Zum Glück hat mir Christoph noch einen weiteren Text zugeschickt, einen Auszug aus dem Buch „Denken in Farbe“ von Ludger Schwarte. Hier folgt der Autor, glaube ich, einer süßen Verlockung, die diesem Begriff „Mal“ innewohnt. Hier kann ich wieder einsteigen. Hier wird der Begriff genutzt. Und zwar als mögliche Rettung der Malerei aus dem Sumpf der Bilderflut, die uns moderne Menschen umgibt. Diese Rettungsidee stützt sich auf eine geschickte Unterscheidung zwischen einem Gemälde im Sinne von Mal und einem Bild.
Ein Zitat aus dem Buch:
„Das dem Malen eigene Mal ist eine unaustilgbare Spur des Leidens, eine Narbe, ein Zeichen der Erregung oder der Scham, wie ein Erröten.“
Zitat Ende.
Und ich verstehe: diese Spur kann nur ein Mensch hinterlassen. Weil er eben dieser gezeichnete Körper ist, den er nicht loswird, der mit ihm so untrennbar verbunden und doch nicht ganz er selbst ist. Das löst wohl Scham aus, dieses „Nicht ganz“. Aber wie kommt das Mal jetzt ins Gemälde.
Über das Stoffliche schreibt Schwarte. Im Text ist die Rede vom Schmutz der Kunstküche: Also vom Farbfleck, vom Tropfen, vom Riss in der Fläche, von den Runzeln im Ton. All das, was mit dem körperlichen Wesen Mensch korrespondiert. Flüssiges, das fest geworden ist, Festgewordenes das reißt und zerfällt, Vergänglichkeiten eben. Und dem gegenüber sieht Schwarte das Dargestellte, also Blumen zum Beispiel oder ein Wasserfall, Figuren, Ideenbilder, Vorstellungen, Begrifflichkeiten. Aber das dem Gemälde Eigene, auf das Schwarte und vielleicht Christoph meine Sympathie lenken möchte, ist eben das Mal im Gemälde, was sich im Stofflichen zeigt, im von Schwarte sogenannten: ,niedrigen, Materialismus.
Und selbstverständlich ist das Wort „niedrigen“ in Anführungszeichen gesetzt, was so viel bedeutet wie: zu Unrecht als niedrig bezeichnet. Und das Wort Materialismus schießt noch einmal mit voller Kraft gegen das Dargestellte, das Geistige und macht unmissverständlich klar, dass der menschliche Körper seinen Anteil einfordert. Ja, und hier sind wir bei der Revolte, beim Aufständischen, von dem ich meine, dass das Christoph, und nicht nur Christoph so packt und interessiert.
Die Gemälde sorgen also für einen regelrechten Aufstand gegen die Bilder, die sie darstellen, weil sie hinter der Darstellung, hinter den Szenen, den Figurationen, den Formen, das sichtbar machen, dessen sie entstammen, eben dem schmutzigen Sumpfboden einer körperlichen Existenz. Das habe ich also verstanden: Gemälde oder sagen wir gute Gemälde sind Bilder, die gegen sich selbst revoltieren, die also den Sumpfboden, dem sie entstammen, zumindest nicht leugnen.
Gut. Aber jetzt kommen die Fragen: Wird die Revolte im Gemälde nicht umso stärker erlebbar, desto größer die Macht der Darstellung ist, gegen die sie Sturm läuft. Und wenn das stimmt: Brauchen wir also gehorsamere Bilder, um die Revolte wieder zu erleben? Und was ist eigentlich mit den ganzen Gemälden, die gar nichts darstellen wollen. Gibt es in ihnen keine Revolte mehr. Oder sind sie ganz und gar Revolte geworden, in denen der niedrige Materialismus das Dargestellte völlig verdrängt hat. Aber gegen was revoltieren sie dann noch? Und eine letzte Frage: Warum benutzen wir, benutze ich das Wort Gemälde nicht mehr. Weil es etwas antiquiertes hat? Weil ich der Revolte überdrüssig geworden bin? Oder weil ich mich vielleicht genau vor dem fürchte, was das Mal im Gemälde mit mir anstellt, wenn ich es lasse.
Christoph Liedtke malt nicht nur, sondern er formt, er dichtet, er musiziert und er lässt sich von solchen Begriffen ergreifen. Lässt sich von ihnen hinab oder hinauf ziehen, zu Ebenen, auf denen man sich nicht unvorsichtig bewegen sollte, denke ich. Und heute lässt er wieder uns daran teilhaben. Aber wir dürfen ihn auch wohlwollend daran messen. Haben wir es in dieser Ausstellung also mit Bildern oder mit Gemälden zu tun?